Vortrag von Florian Rombach vom 25. April 2017 für die LKR in München:

Personenfreizügigkeit in der EU im Spannungsfeld von deutschem Sozialstaat – offenen Grenzen – Inklusion

Definition: Personenfreizügigkeit (PFZ) bedeutet „freier Personenverkehr“ und beinhaltet die Freiheit, in einem anderen Land als dem Heimatland wohnen und arbeiten zu dürfen.

Aus ihr leitet sich die „Arbeitnehmer-Freizügigkeit“ ab, mit dem Recht auf Niederlassung und dauerndem Aufenthalt.

In der sog. „Freizügigkeitsrichtlinie“ 2004/38/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 29. April 2004 ist das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, niedergelegt.

In der EU ist die PFZ seit 1993 eine von vier Grundfreiheiten, die anderen sind Warenverkehrsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit, Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Schon in der Präambel des EU-Vertrages heißt es: „Entschlossen, die Freizügigkeit unter gleichzeitiger Gewährung der Sicherheit ihrer Bürger durch den Aufbau eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Vertrags und des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union zu fördern.“

Die Umsetzung des Ziels der Freizügigkeit und der Sozialstaatlichkeit, sowie deren Ausgestaltung, erfolgte nach Art. 3 Abs. 2,3 des EU-Vertrags, in Verbindung mit Art. 21, Art. 45-55 AEUV und Art. 151 ff AEUV.

I. Kann der deutsche Sozialstaat, bei den der Freizügigkeit geschuldeten offenen Grenzen, eine Inklusion von Bürgern europäischer Mitgliedsländer dauerhaft leisten?
Hier bedarf es zunächst der Definition des Begriffs „Inklusion“: Inklusion bedeutet die Einbeziehung der Migranten und deren Zugang in das Sozialsystem des Gastlandes – bei unserem Thema: Deutschlands. Niedergelegt in Art. 9 EU-Vertrag: Gleichbehandlung von Bürgern in der EU. Es ist danach grundsätzlich das Gastland – man spricht vom Gastlandprinzip – statt des Heimatlands für die sozialen Leistungen eines Migranten zuständig.

  1. Das führt mich zur Beantwortung der eingangs gestellten Frage und der zentralen
    These des Referats:
    Der deutsche Sozialstaat kann das – die drei Ziele Freizügigkeit, Inklusion, Sozialstaat – dauerhaft nicht leisten bzw. erreichen, will er sein Sozialsystem nicht überfordern.

Zur Unterstreichung der These darf ich zunächst auf H.W. Sinn verweisen:

„Das unmögliche Migrationsdreieck“

Das unmögliche Migrationsdreieck

Aber warum können die drei Ziele der EU nicht zusammen erreicht werden?
Exkurs:
(1) W. Sinn geht von einer „negativen fiskalischen Nettobilanz“ von Migranten aus. D.h. sie bringen dem Staat weniger an Einzahlungen in das Steuer-Sozial-Rentensystem, als sie daraus beziehen.

–   Bernd Raffelhüschen, Uni Freiburg, machte eine Modell-Rechnung auf, ausgehend von sechs Jahren, die ein Migrant braucht, um im deutschen Arbeitsmarkt so integriert zu sein, wie es bereits vorhandene Migrationsbevölkerung im Durchschnitt ist, in Anbetracht von Einkommens-niveau, Beschäftigungsquote und anderen Parametern.

Ergebnis: Pro Flüchtling ist mit 450.000 EUR an Belastung für den deutschen Staat zu rechnen.

Sinn führt in seinem Buch aus, der Betrag mag hoch erscheinen, resultiert aber aus dem Umstand, dass bereits die in Deutschland anwesenden Migranten nach Sinn’s Berechnungen „im Durchschnitt Nettoempfänger staatlicher Ressourcen sind“.

– Holger Bonin, Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW, Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung, wählt einen anderen Ansatz als Raffelhüschen und kommt auf 398.000 EUR, die ein Flüchtling den deutschen Staat kostet.

Beide Modell-Rechnungen gehen  von Flüchtlingen aus, also nicht ausschließlich von Migranten aus der EU, es verbleibt dennoch bei der „negativen fiskalischen Netto-Bilanz“.

(2) Zur Begründung meiner These bedarf es einer weiteren Betrachtung: Migranten ziehen gut ausgebaute Sozialstaaten vor, weil sie dort gute Löhne oder gute Sozialleistungen erwarten und überdies an den „Club“-Gütern des Sozialstaats teilhaben können, als da sind: in Generationen aufgebaute Infrastruktur, Straßen, Schulen, Krankenhäuser, funktionierende Institutionen. Sie profitieren also direkt durch ihnen zugewandte Leistungen und daneben durch die öffentlichen „Club“-Güter des Staates. Da sie den Staat aufgrund ihrer negativen fiskalischen Netto-Bilanz Geld kosten, profitieren sie also von einem offenkundigen Umverteilungseffekt

Mein Kollege Christ kam gerade von einem dreiwöchigen Aufenthalt in Serbien zurück. Er berichtete von der Flüchtlingssituation dort: kein Flüchtling will in Serbien bleiben, alle wollen nach Nord-Europa, vornehmlich Deutschland. Deutschland wirkt wie ein Magnet, der besonders gering oder gar nicht qualifizierte Migranten anzieht.

  1. Diese Betrachtung ist übertragbar auf EU-Staaten wie zum Beispiel Rumänien und Bulgarien, die längst nicht über einen Wohlfahrts- und Sozialstaat verfügen, wie er in Deutschland anzutreffen ist.

Aus dieser faktischen Konstellation entsteht die Gefahr – und hier bin ich wieder bei H.W. Sinn – dass die bislang noch gut ausgebauten Sozialstaaten künftig gezwungen sein werden, ihre sozialstaatlichen Leistungen zurückzuschrauben, um Kosten zu begrenzen und Magnetwirkung zu reduzieren. In der Literatur wird dieser Effekt mit „Race to the bottom“ (Rennen nach unten) umschrieben.

Exkurs:
In einem Positionspapier vom September 2015 „Asyl und Zuwanderung“ – unter www.florianrombach.de – habe ich den damaligen serbischen Ministerpräsidenten Vucic zitiert, der in einem FAZ-Interview Ende August 2015 geäußert hatte: Man möge den Flüchtlingen vom Balkan (damals nicht als sichere Herkunftsländer eingestuft) nur noch EUR 200,00 monatlich anstatt dem üblichen dreifachen Betrag zukommen lassen und es kämen sofort 80 % weniger Flüchtlinge vom Balkan. – Der Mann hatte das Problem erkannt und die einfache Lösung vorgeschlagen.

Jetzt werden Sie vielleicht einwenden, aber, um bei den Beispielen Rumänien und Bulgarien zu bleiben, diese EU-Staaten hätten doch stabile Arbeits- und Sozialverhältnisse, ansonsten wären sie gar nicht in die EU aufgenommen worden. An drei Beispielen, die ich ebenfalls dem Buch „Der schwarze Juni“ von H.W. Sinn entnehme, will ich aufzeigen, dass die Unterschiede im Lohn- und Sozialbereich riesig sind:

  1. Beispiel: Wer nicht arbeitsfähig ist, hat nach den Regeln der EU spätestens nach fünf Jahren den vollen Anspruch auf steuerfinanzierte Sozialleistungen wie Einheimische. Diese Leistungen sind nicht begrenzt und gelten bis zum Tod. Wer zum Beispiel mit 60 Jahren nach Deutschland einwandert, hat mit 65 Jahren einen dauerhaften Anspruch auf Sozialleistungen auf dem Niveau eines arbeitslosen Hartz-IV-Empfängers. Das sind
    – Hilfe zum Lebensunterhalt – 404,00 EUR
    – Übernahme der Warmmiete – ca. 350 EUR
    – private Krankenversicherung – Marktwert – 300 EUR.
    Summa Summarum über 1.000 EUR (in München wegen höherer Mieten 1.300 EUR).

Dies ist faktisch eine Rente, für die nie eingezahlt wurde.

Diese „Rente“ beträgt ca. das Doppelte des Arbeitseinkommens eines durchschnittlichen rumänischen oder bulgarischen Arbeitnehmers und ein vielfaches der dort erzielten Renten. Jetzt werden Sie vielleicht einwenden: Eine Wartefrist von fünf Jahren ist aber lang und von was lebt der gute Mann in den fünf Jahren. Die Antwort ist so einfach, wie die Problemlösung für den Migranten: Dieser braucht nämlich nur einen Meldeschein in Deutschland und muss jährlich sechs Monate in Deutschland leben, kann also jeweils sechs Monate im Jahr in seinem Heimatland die Frist „absitzen“. Zudem kontrolliert die Sechs-Monats-Frist niemand.

  1. Beispiel: Arbeitnehmer (AN)

Nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichtes vom Dezember 2015 hat ein AN, der Arbeit sucht, aber keine findet, schon nach sechs Monaten Anspruch auf Sozialhilfe, Finanzierung von Wohnraum und freie Krankenversicherung, ähnlich dem vorangegangenen Beispiel. Die Wartefrist von fünf Jahren wird also durch die bloße Erklärung, man suche Arbeit, auf ein halbes Jahr verkürzt, weil sich dann, so das BSozG, der Aufenthalt in Deutschland „verfestigt“ hat.

Noch attraktiver wird das Modell für Eltern. Die kassieren ab dem ersten Tag in Deutschland für ihre Kinder Kindergeld, auch wenn diese in ihrem Heimatland bei den Großeltern oder der Mutter zurückbleiben und in ihrem Heimatland viel kostengünstiger versorgt werden, als das bei uns der Fall wäre.

  1. Beispiel: Ehepaar aus Bulgarien, fünf Kinder. Mann sucht Arbeit, Frau kümmert sich um die minderjährigen Kinder.

Nach sechs Monaten:

Die beiden Erwachsenen erhalten zus.Grundsicherung 728 Euro
Kostenerstattung für angemessenen Wohnraum durchschn. 729 Euro
Kindergeld 1018 Euro
Gesamt: 2475 Euro

Hinzu kommt:

freier Krankenversicherungsschutz für die ganze Familie mind. 2.100 EUR macht summa summarum 4.600 EUR unmittelbare Kosten für den Staat.

In Bulgarien beträgt der durchschnittliche Brutto-Arbeitslohn 505 EUR, also ca. ein knappes Fünftel des Netto-Einkommens, das der deutsche Staat gewährt, ohne dass ein Mitglied der Familie auch nur einen Finger rührt, um eigenes Einkommen zu generieren.

David Cameron hatte in seinen Verhandlungen mit der EU, die dem Brexit vorangingen, deutlich auf den Missstand des „sozialstaatlichen Inklusionsprinzips“ hingewiesen. Erst nach vier Jahren sollten AN aus dem EU-Ausland steuer- und beitragsfinanzierte  Sozialleistungen erhalten.  Solche AN sollten sich ihren Schutz durch das sozialstaatliche Umverteilungssystem erst verdienen. Man ließ Cameron auflaufen. Man wollte ihm nur eine über vier Jahre gestreckte, graduell verbesserte Inklusion gewähren, die nach sieben Jahren auslaufen würde. Das Ende ist bekannt: Brexit. Im Arbeitsministerium gibt es inzwischen Überlegungen und Pläne, den Sozialtourismus einzudämmen.

II. Lösungsvorschlag nach H.W. Sinn für die Migranten aus EU-Staaten.

(1) Wechsel vom Inklusions-(Gastland)-Prinzip zum Heimatlandprinzip.
Das bedeutet:
Ansprüche auf steuerfinanzierte Sozialleistungen können im Gastland nur in dem Maß geltend gemacht werden, wie sie zuvor selbst durch Steuern finanziert wurden. Kindergeld nur in Höhe des Heimatland-Niveaus, wenn die Kinder im Heimatland verbleiben.

Arbeitslosengeld und Sozialhilfe nur dann, wenn sie zuvor durch Steuern durch den, der sie in Anspruch nehmen will, finanziert wurden. Sie sind dann aber transportierbar in andere Länder, d.h. sie können in Deutschland erworben und zum Beispiel in Rumänien verbraucht werden.

(2) Für diese Maßnahmen erforderlich:
Ein Steuerkonto, in dem die eingezahlten Steuern mit erhaltenen steuerfinanzierten Leistungen verrechnet werden, ohne dass ein Fehlbetrag auf diesem Konto entstehen darf.

Das wäre Steuer-Gerechtigkeit, von der so viel palavert wird, zum Beispiel von einem Herrn Schulz, SPD, ohne dass dieser konkret auf das hier vorgetragene Modell auch nur am Rande eingegangen wäre.

Es ist und bleibt eine eklatante Ungerechtigkeit, dass EU-Ausländer (und Migranten insgesamt) nach wenigen Monaten Aufenthalt, bzw. einer Wartefrist, finanziell genauso oder nahezu genauso vom deutschen Sozialstaat gestellt werden wie deutsche Staatsbürger mit geringem Arbeitseinkommen, die ihr gesamtes Arbeitsleben in Sozial- und Rentenkassen eingezahlt haben.

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des derzeitigen Sozialstaats-Niveaus „für alle“ durch zwei Ereignisse in Zukunft verschärft wird:

(1) Die Baby-Boomer-Generation geht in ca. 12 bis 15 Jahren in Rente. Die dann erwerbstätige Bevölkerung hat ein Rentner-Heer zu finanzieren, das bei annähernd gleichen Renten-Niveau und Beitragssätzen nicht mehr finanzierbar ist.

(2) Die mangels eines Einwanderungsgesetzes und weiterhin ungesteuerter Zuwanderung aus allen Teilen dieser Welt (Asylberechtigte machen nur einen ganz geringen Anteil an dieser Zuwanderung aus) absehbare Zusatz-Belastung des Sozialstaats infolge negativer fiskalischer Netto-Bilanz der ganz überwiegenden Mehrheit dieser Zuwanderung.

Daraus wird sich die Gefahr ergeben, dass Hochqualifizierte, die in 15 Jahren die Fehler der heutigen Politik finanziell zu tragen haben werden, sich verstärkt ins Ausland verabschieden, wo sie weniger mit Steuern und Abgaben für unseren Sozialstaat zur Kasse gebeten werden.

Florian Rombach